Gleich zwei Jubiläen begleiten uns durch das Jahr 2023: Zum einen blicken wir auf 30 Jahre Solidarité femmes zurück, zum anderen wurde 1993 auch das Opferhilfegesetz (OHG) ins Leben gerufen, welches die Basis unserer täglichen Arbeit darstellt. Von der Zivilbevölkerung angestossen durch eine Initiative des Magazins «Beobachter» wurde das OHG durch die Stimmbevölkerung mit einer hohen Zustimmung von 82.1 % angenommen.

In den 30 Jahren hat sich unser Angebot stets angepasst und verändert. Gestartet hat Solidarité femmes mit dem Frauenhaus, zum Millenium kam die ambulante Beratungsstelle dazu. Verschiedene Projekte wurden ins Leben gerufen: Beispielsweise wurde die 24h- Hotline AppElle! zusammen mit der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern aufgebaut, Beratungen im Jura Bernois ermöglicht, verschiedene Projekte mit und für Kinder und Jugendliche durchgeführt, ein erster Umbau des Frauenhauses 2009 sowie ein zweiter Umbau 2022.

Das Interesse von Gesellschaft und Politik am Thema Opferhilfe bzw. an der Problematik der Häuslichen Gewalt war über die Jahre immens wichtig und ist heute wichtiger denn je. Damit diese Dynamik eine Sichtbarkeit erhält und in der breiten Öffentlichkeit ein Diskurs entstehen kann, benötigt es uns alle. Daher oder umso mehr betrachten wir es als wichtig, dass auch Tage wie der 8. März dazu genutzt werden, auf verschiedene Themen aufmerksam zu machen: Auf die immer noch vorhandene Ungleichbehandlung der Geschlechter oder auf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder Sexualität.

Gerne empfehlen wir Ihnen dazu den Anlass im filmpodium am 8.3.2023, organisiert durch den Frauenplatz Biel/Bienne:

Der Film «CALL JANE» wird gezeigt, der die Abtreibungspolitik in den 1960iger Jahren in den USA thematisiert und die Herausforderungen der Frauen

auf die Leinwand projiziert. Ein geschlechterbezogenes Thema, welche viele Hürden mit sich bringt - damals wie heute.

In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen gehaltvollen Internationalen feministischen Kampftag und freuen uns bereits, mit Ihnen unser Jubiläum in der zweiten Jahreshälfte zu feiern!

 

Eine Strategie die uns beschäftigt: Die Opferhilfestrategie des Kantons Bern

Im November 2022 hat der Regierungsrat die kantonale Opferhilfestrategie 2023-2033 verabschiedet. In diesen Tagen entscheidet der Grosse Rat, ob er die kantonale Opferhilfestrategie 2023-2033 in Teilen zurückweist, wie es die Gesundheits- und Sozialkommission des Grossen Rates (GSoK) beantragt hat.

Wie kam es dazu? Im November 2019 wurde im Grossen Rat die Motion 280-2019 Kohli «Kantonale Opferhilfestrategie» eingereicht, welche die Erarbeitung einer kantonalen Opferhilfestrategie forderte. Gut zwei Jahre später, im März 2022, veröffentlichte die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) eine erste Version dieser Strategie und lud verschiedenen Akteure und Akteurinnen ein, sich im Rahmen eines Konsultationsverfahrens zu den erarbeiteten Stossrichtungen und Massnahmen zu äussern. Es kam jedoch nur zu wenigen Veränderungen, und die definitive Version der Strategie wurde im November 2022 vom Regierungsrat genehmigt. 

Die drei kantonalen Opferhilfestellen im Kanton Bern, Solidarité femmes Biel & Region, die Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern und die Stiftung Opferhilfe Bern wendeten sich via Medien an die Öffentlichkeit. Grundsätzlich begrüssen wir alle Vorschläge, welche die Strukturen für die Betroffenen transparent und die Leistungen effizient machen. Aus fachlicher Sicht jedoch werden verschiedene Massnahmen in der Strategie den Bedürfnissen der von Straftaten betroffenen Personen nicht gerecht und widersprechen sogar der Zielsetzung des Opferhilfegesetzes. 

Regionalität ist wichtig Es darf mit der neuen Strategie nicht zu einem Abbau von Beratungsstandorten kommen. Die Angebote im Berner Oberland werden in der Strategie nicht erwähnt, hingegen sind Beratungszentren in Bern und Biel vorgesehen. Wir sind der Meinung, dass anstatt Leistungen abzubauen, neu auch die Regionen Oberaargau und das Emmental über dezentrale Angebote verfügen müssten.

Die Opferhilfe umfasst mehr als häusliche Gewalt Die Strategie fokussiert auf häusliche Gewalt. Die Opferhilfe umfasst jedoch weit mehr Themen wie beispielsweise Körperverletzungen im öffentlichen Raum, Drohungen gegen Leib und Leben durch Einzelpersonen oder organisierte Banden bis hin zu Tötungsdelikten, Stalking, sexualisierter Gewalt, Entführungen, Menschenhandel. Auch diese müssen in einer Opferhilfestrategie berücksichtigt und einbezogen werden.

Kostenneutralität ist nicht realistisch Seit Jahren steigen die Nachfrage nach Schutzangeboten und Beratung. Diese Entwicklung hat die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion GSI in den Leistungsverträgen der letzten Jahre nicht berücksichtigt, was bedeutet, dass wir immer mehr Klientinnen haben, unsere Struktur der Entwicklung aber nicht anpassen können. Der Druck auf die Mitarbeiterinnen ist enorm, und die Qualität der Leistung leidet. Dies ist keine gute Ausgangslage für eine neue Strategie.

Es besteht ein Grundlagen-Irrtum im Bereich der Migration Die neue Strategie vermischt Aufgaben aus dem Asyl- und Migrationsbereich mit der Opferhilfe. Das ist fachlich falsch und widerspricht den Zielen des Opferhilfegesetzes (OHG). Die Nationalität von Opfern und möglichen Täter:innen ist im OHG genauso unerheblich wie die Frage, ob die Beschuldigten dingfest gemacht werden konnten oder nicht. Alle Opfer von Straftaten und ihre Angehörigen sollen unterstützt werden.

Der Datenschutz soll geschwächt werden Gemäss Strategie sollen Daten der Opferhilfestellen neu mit verschiedenen Behörden geteilt werden. Das kann zu einer grossen Gefährdung von gewaltbetroffenen Personen führen und auch die Mitarbeiter:innen im Opferhilfebereich unnötigen Gefahren aussetzen. Der Datenschutz ist nicht nur ausschlaggebend bezüglich der Sicherheit, sondern auch für das Vertrauen der Klientinnen, die es nicht mehr wagen würden, sich an eine Beratungsstelle zu wenden.

Verzicht auf das vom Grossen Rat beschlossene Mädchenhaus Der Grosse Rat hat nach einer Bedarfsabklärung und einem Pilotversuch beschlossen, im Kanton Bern ein Mädchenhaus zu schaffen. Dies wird in der neuen OH-Strategie nicht berücksichtigt. Stattdessen sollen 4 Plätze in einem der Frauenhäuser zur Verfügung gestellt werden. In den Frauenhäusern gibt es aber keinen Platz, es fehlt die Bewilligung, Struktur und die fachliche Spezialisierung für die adäquate Begleitung und Betreuung von gewaltbetroffenen Mädchen.